Sie sind hier

TU Berlin warnt vor Folgen der Algenbekämpfung

Gefährlicher Trugschluss bei der Bekämpfung von Blaualgen
 
Phosphor zu reduzieren kann Seen giftiger machen. Dieses neue Forschungsergebnis erfordert ein fundamentales Umdenken beim Management von Binnengewässern – Publikation im Fachmagazin Science
 
Blaualgen können Giftstoffe produzieren und Seen Sauerstoff entziehen, wenn sie absterben. Phosphor ist für sie ein wichtiger Nährstoff. Bisher wurden deshalb überall auf der Welt Milliardenbeträge investiert, um den Gehalt an Phosphor zu verringern und so das Wachstum dieser „Cyanobakterien“ zu hemmen. Doch wenn die Gesamtzahl an Bakterien abnimmt, steht den verbleibenden Bakterien mehr eines anderen wichtigen Nährstoffs zur Verfügung: nämlich Stickstoff. Nun hilft eine höhere Stickstoffkonzentration hauptsächlich den Blaualgen, die daraus ein Gift produzieren, das sie vor Schäden durch Oxidation schützt. Die Verringerung von Phosphor führt also zu einem Vorteil für die besonders giftigen Blaualgen-Stämme, was wiederum zu einer Zunahme der Giftstoffe im See führen kann.
 
Diesen Zusammenhang haben Forschende der Technischen Universität (TU) Berlin nun erstmals in einem Beitrag für das interdisziplinäre Fachmagazin Science beschrieben. Darin simulieren sie für den Eriesee an der Grenze zwischen den USA und Kanada das Verhalten der Blaualgen mit Hilfe eines „agentenbasierten“ Modells. Sie fordern ein Umdenken beim Gewässermanagement, das neben der Reduzierung von Phosphor auch die Verringerung des Stickstoff-Eintrags in Gewässer zum Ziel haben müsse.
 
Gefährlich für Menschen und Tiere
Der Sommer steht vor der Tür und damit auch die Zeit der Blaualgenblüte in Seen. Gefährlich können die sich dann massenhaft vermehrenden Cyanobakterien für freilaufende Hunde sein, aber auch für Menschen, insbesondere Kinder. Im vergangenen Jahr verhängte das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales deshalb ein Badeverbot am Tegeler See [1]. Im August 2019 starben in Bayern drei Hunde, nachdem sie in verseuchtem Wasser gebadet hatten, im Mai 2017 auch mehrere Hunde am Tegeler See [2]. Und im August 2014 war die gesamte Großstadt Toledo im US-Bundesstaat Ohio betroffen: Ein halbe Million Menschen durfte dort drei Tage lang ihr Leitungswasser nicht trinken und sich damit auch nicht die Hände waschen oder duschen [3]. Der Grund war verseuchtes Trinkwasser aus dem nahen Eriesee (englisch Lake Erie). Die Blaualgenart Microcystis hatte dort besonders viel des Lebergifts Microcystin (MC) produziert. Bereits vor seiner genauen biochemischen Beschreibung war es als „fast death factor“ in der wissenschaftlichen Literatur bekannt.
 
Das Verhängnis: Der Giftstoff bietet einen großen Vorteil
„Microcystin ist zwar für Menschen und Tiere ein starkes Gift, für Cyanobakterien aber hat es einen großen Vorteil“, sagt Prof. Dr. Ferdi Hellweger, Leiter des Fachgebiets Wasserreinhaltung am Institut für Technischen Umweltschutz der TU Berlin. Das giftige Microcystin kann nämlich an den Enzymen, die für die Lebensvorgänge in den Bakterien wichtig sind, bestimmte Bindungsstellen besetzen. Damit schirmt es diese vor aggressivem Wasserstoffperoxid (H2O2) ab, das die Stellen in den Molekülen sonst angreifen, die Enzyme oxidieren und so unbrauchbar machen könnte. „Wasserstoffperoxid, das unter anderem auch ein Beiprodukt der Photosynthese von Pflanzen ist, kommt in der Natur überall vor“, erklärt Hellweger. Daher sei die Produktion von MC ein wichtiger Schutzfaktor für die Bakterien. Trotzdem gebe es Bakterienstämme, die sehr viel MC produzieren und solche, die das weniger oder gar nicht tun.
 
Weniger Konkurrenz belebt das Geschäft
„Genau diese Vielfalt unter den Bakterienstämmen ist für das Phänomen verantwortlich, dass eine Reduzierung von Phosphor zu einer Erhöhung der MC-Produktion führen kann“, sagt Hellweger. Die Einsparung von Phosphaten als Düngemittel in der Landwirtschaft sowie die Verringerung des Phosphorgehalts von Abwasser durch die dritte Reinigungsstufe in Kläranlagen galten bisher als geeignetes Mittel, um das Blaualgenwachstum auch in größeren Gewässern wie dem Eriesee zu bremsen. Denn Phosphor ist ein nur begrenzt in der Natur verfügbarer Nährstoff für die Bakterien: „Weniger Phosphor im Wasser reduziert die Masse an Blaualgen und damit auch die Menge an Gift, das war die einfache Formel beim Gewässermanagement“, so Hellweger. Die wirklichen Abläufe in der Natur seien jedoch komplexer. „Wenn weniger Blaualgen vorhanden sind, müssen sie auch weniger um die anderen Nährstoffe konkurrieren, wovon der wichtigste der ebenfalls nur begrenzt vorhandene Stickstoff ist. Und Stickstoff wiederum ist ein wichtiger Baustein für das MC-Molekül.“ Sprich: Die viel Microcystin produzierenden Bakterienstämme haben es nun leichter und können sich besser vermehren als vorher, auch weil Microcystin sie eben vor dem schädlichen Wasserstoffperoxid gut schützt.
 
Auch Stickstoff müsste massiv reduziert werden
Im Ergebnis führt also eine Phosphorreduktion zwar zu weniger Blaualgen insgesamt, aber im Verhältnis zu mehr giftproduzierenden Blaualgen – und zwar zu so viel mehr, dass die Menge an Giftstoff im See auch absolut zunimmt. „Diese Erkenntnis bedeutet einen wirklichen Wendepunkt für das Management von Gewässern. Will man die Giftstoffe von Blaualgen reduzieren, muss man nicht nur den Eintrag von Phosphor in die Seen verringern, sondern auch von Stickstoff, der ebenfalls in der Landwirtschaft in großen Mengen als Dünger verwendet wird“, erklärt Ferdi Hellweger. Da das mit erheblichem zusätzlichem Aufwand verbunden wäre, stehen nun praktisch alle Programme zur Gesunderhaltung oder Sanierung von Seen auf dem Prüfstand – auch das für den Eriesee, bei dem sich die USA und Kanada verpflichtet haben, die Menge an Phosphor um 40 Prozent zu reduzieren, was mit knapp 40 Millionen US-Dollar pro Jahr alleine für die Landwirtschaft der USA erhebliche Kosten hat [4], [5].
 
Blaualgen als Agenten
Nicht nur das Ergebnis, auch die Erkenntnismethode der Forschenden ist dabei revolutionär. Erstmals haben sie eine sogenannte agentenbasierte Simulation für das Verhalten dieser Blaualgen benutzt. Jede Blaualge wird dabei im Computer als ein Individuum repräsentiert, verhält sich etwas anders, je nach ihrer angenommenen „Lebensgeschichte“ und Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bakterienstamm. „Eine Blaualge, die sich etwa viel an der Wasseroberfläche befand, wird dem Licht und damit Wasserstoffperoxid besonders stark ausgesetzt gewesen sein. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre MC-Produktionskapazitäten voll ausnutzt“, sagt Hellweger.
 
Komplexer Regelkreis
Jedem Cyanobakterium wird in der Simulation ein zwar vereinfachter, aber immer noch sehr komplexer Regelkreis zugeordnet. Er beinhaltet unter anderem den Wirkmechanismus des wichtigsten Gens für die Herstellung von MC, aber auch den Prozess der Oxidation durch Wasserstoffperoxid. „Komplizierter werden die Vorgänge zum Beispiel dadurch, dass die Bakterien auch ein Enzym bilden können, das Wasserstoffperoxid abbaut und sie so ebenfalls vor Oxidation schützt“, sagt Ferdi Hellweger. Zudem spiele Licht eine große Rolle, das das Gen zur Bildung von MC aktivieren kann. Auch dieser Mechanismus trägt zum Effekt bei, dass bei verringerter Biomasse mehr Giftstoff gebildet wird – denn dann kann mehr Licht in größere Tiefen eindringen und dessen Produktion stimulieren.
 
708 Experimente als Grundlage
Als Modellorganismus für ihre Simulation verwendeten die Forschenden die Blaualgenart Microcystis und als Modellgewässer den Eriesee. Um die Vorgänge dort genau modellieren zu können, führten sie eine umfangreiche Literaturrecherche durch und werteten 103 Studien mit 708 Experimenten aus, die bis ins Jahr 1958 zurückreichen. Wissenschaftler*innen der University of Tennessee in Knoxville (USA) führten zudem eigene Laborexperimente durch, um die Modellbildung zu unterstützen. Wissenschaftler*innen der University of Michigan in Ann Arbor (USA) nahmen Feldmessungen an der Trinkwasser-Entnahmestelle von Toledo am Eriesee vor.
 
Methode soll sich nun etablieren
Andere Cyanobakterien produzieren andere Giftstoffe – die Blaualgen am Tegeler See etwa das Nervengift „Anatoxin-a“. Welche Rolle dieses für die Bakterien spielt, ist noch nicht genau erforscht. Die Wissenschaftler*innen gehen aber davon aus, dass ihre Methode der agentenbasierten Simulation auf Grundlage von bekannten biologischen Mechanismen auch für das Management von anderen Blaualgen-Systemen hilfreich sein kann. „Wir hoffen, dass sich aufgrund unserer Veröffentlichung nun viele andere Forschungsgruppen mit unserer Methode befassen, sie reproduzieren und auf andere Fälle von Blaualgenwachstum anwenden“, erklärt Ferdi Hellweger.
 
Das Projekt wurde maßgeblich gefördert durch die „National Oceanic and Atmospheric Administration“ (NOAA), die Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA.
 
Quellen:
 
[1] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2021/06/blaualgen-gesundheitsamt-badeverbot-tegeler-see-berlin.html
[2] https://www.mdpi.com/2072-6651/12/11/726 und https://www.mdpi.com/2072-6651/10/2/60
[3] https://greatlakes.org/2019/08/five-years-later-lessons-from-the-toledo-water-crisis/
[4] https://www.epa.gov/glwqa/us-action-plan-lake-erie
[5] https://www.fondriest.com/news/possible-costs-fixing-lake-erie-algal-blooms.htm#:~:text=In%20addition%20to%20conservation%20tillage,to%20farmers%20to%20implement%20them
 
 
Link zur Studie von Hellweger et al. in Science: https://www.science.org/doi/10.1126/science.abm6791
 

Theme by Danetsoft and Danang Probo Sayekti inspired by Maksimer